August 2022
Der Neurochirurg und Klinikdirektor Andreas Raabe hat in seiner Karriere grosse Entwicklungen der Medizintechnik erlebt, die ungeahnte Möglichkeiten für Eingriffe an Hirn und Wirbelsäule eröffnen. Als Physik-Liebhaber entwickelt er zusammen mit dem ARTORG Center selbst neue Technologien für den OP, die aus der Praxis am Inselspital entstehen.
Sie sind Neurochirurg. Was ist das Herausforderndste, was das Bereicherndste an Ihrer Arbeit?
Das Besondere sind die Intensität und die Präzision. Die Präzision, die für einen Eingriff notwendig ist, auch im Wissen um die Anatomie. Und die Intensität, die gleichzeitig die Grenze unserer Möglichkeiten markiert:
Wir erleben unglaubliche Heilungen aber auf der anderen Seite auch unglaubliche Tiefschläge bei Komplikationen oder bei bestimmten Tumoren oder Unfällen, wo nichts mehr getan werden kann. Die Emotionalität ist daher in beide Richtungen sehr hoch.
Wir retten Leben, aber bei uns sterben die Patienten leider auch.
Wie hat sich die Neurochirurgie verändert?
Zeichen nutzen, um Erkrankungen zu verstehen und Operationen durchzuführen – teils auch sehr viel im palliativen Bereich. Heute hat sich die Neurochirurgie zu einer Fachdisziplin entwickelt, die v.a. durch die modernen medizintechnologischen Entwicklungen, durch Bildgebung und Navigation, in den Menschen hineinschauen kann. Wir haben Augen bekommen. Wir können ganz genau sehen, wo es Tumore und delikate Strukturen gibt. Das ist ein himmelweiter Unterschied dazu, wo ich einmal begonnen habe. Heute sind wir kleiner, besser, schonender.
Was ist die Triebkraft hinter der Entwicklung von Medizintechnik?
Ich habe durch meine Affinität zu Physik und Ingenieurswissenschaften immer versucht, Medizintechnik zu verbessern. Denn was könnte besser sein, als bei der Anwendung im OP zu spüren „Was würde ich jetzt brauchen?“. Es ist mir wichtig, von der Praxis aus, an dieser Grenze des Machbaren, darüber nachzudenken, was noch verbessert werden könnte.
Ein Beispiel kann das hier am Inselspital entwickelte Dynamische Mapping, sein, wo wir durch elektronische Impulse in Operations-Instrumenten so etwas wie ein Radar ins Gewebe schicken können. Das schafft zusätzliche Sicherheit, denn wir wissen vorher, wo sich sensible Bereiche befinden und nicht erst, wenn es zu spät ist. Dieses System haben wir hier in Bern entwickelt und heute wird es weltweit angewendet.
Die Gedanken dazu sind während der Operation entstanden und wir konnten es umsetzen, weil hier technisches Knowhow vorhanden ist und Ingenieure und Ärztinnen sich verständigen können.
Sie arbeiten zur Entwicklung von Medizintechnologischen Lösungen mit dem ARTORG Center der Uni Bern zusammen. Was sind Ihre Erfahrungen?
Das ARTORG ist für uns ein verwirklichter Traum, indem es Ingenieurswissenschaften, Medizin und Industrie zusammenbringt. Wir haben v.a. mit Stefan Weber in der Navigation und der Robotik zusammengearbeitet (BRIDGE-Projekt). Im Bereich der Robotik wollen wir weiterforschen. Das spiegelt sich auch in einer neuen Professur, die wir etablieren wollen mit Doppel-Affiliation Inselspital – ARTORG, Uni Bern. Dass wir das so umsetzen können, freut mich besonders an dieser für mich idealen Zusammenarbeit.
Wo setzen Sie in Ihrer Klinik Medizintechnik ein?
Von früh bis abends im OP. Die Neurochirurgie ist das medizinische Fach, das am stärksten medizintechnologisch beeinflusst wurde. Es gibt fast keine Operation ohne bildgestützte Führung. Bevor wir starten, markieren wir mit Nadeln die Nerven und Muskeln, um die Leitungsbahnen und die Gehirnfunktionen zu überwachen. Daher brauchen wir zu Beginn länger, dafür kann die Operation danach schneller und präziser durchgeführt werden. Allgemein setzen wir Medizintechnik besonders in der Navigation und im Neuromonitoring während der OP ein.
Neurochirurgische Eingriffe sind hochpräzise und risikoreich. Können Nachwuchs-Ärztinnen und -Ärzten diese Aspekte in der Ausbildung speziell trainieren?
Aufgrund der Strukturen, an denen wir operieren, muss man gut ausgebildet sein. Das anatomische Wissen und die Kenntnis über bestimmte Zugänge sind heute einfacher zu erlernen als früher. Damals hatte man nur ein Bild in einem Buch, das man auswendig lernen musste und dann in seinem Kopf in 3D übersetzen. Heute können wir mit der Navigation unser anatomisches Wissen in Echtzeit überprüfen. Das hilft jedem Assistenten, die Operation schon im Anfangsstadium besser zu planen.
Auch auf Gebieten mit weniger Navigation – etwa beim Clipping eines Aneurysmas – können wir heute die Ausbildung verbessern. So kann ein Aneurysma in ein realistisches 3D-Modell übersetzt werden, , dass sogar das Üben des Eingriffs erlaubt. Das ist ein grosser Fortschritt und da niemand einen Clip genau gleich setzt, können hiermit sogar erfahrene Operateure noch dazu lernen. Daher freue ich mich auf den ersten Kurs mit dieser Technologie.
Welchen Stellenwert hat Robotik bei neurochirurgischen Interventionen?
Im Moment ist die Robotik in der Neurochirurgie reduziert auf die Funktion eines Haltearms für die Wirbelsäulenchirurgie und nutzt noch nicht die neuen Möglichkeiten. Damit meine ich v.a. die Sensorik, also dass der Roboter mit einer Fähigkeit, tausendfach empfindlicher zu sein, Kräfte viel genauer messen kann als wir mit unserer menschlichen Empfindung. Diese Vorteile setzten wir zurzeit noch nicht klinisch um, aber das ist der Weg, den die Robotik für die Medizin gehen muss: Sie muss intelligent werden.
Was sind die spannendsten künftigen Innovationsbereiche in der Neurochirurgie?
Ich sehe Innovationspotential besonders im Operationssaal, dort wo wir noch mehr visualisieren, also in den Patienten hineinsehen könnten, oder die Genauigkeit der Navigationssysteme noch erhöhen können. Ein sehr wichtiger Bereich wird insbesondere die intelligente Robotik sein, vielleicht mit Mikrosystemen, die uns im sehr kleinen Operationsfeld eine dritte oder vierte Hand geben können. Dazu kommen neue Methoden der Blutstillung und der elektrophysiologischen Überwachung.
Wenn Sie sich ein MedTech Tool wünschen könnten, das es noch nicht gibt, welches wäre das?
Diese Frage ist äusserst schwierig. Vorherzusehen, welche Dinge wir brauchen werden, das ist ja die grosse Kunst der Innovation. Wüsste man das bereits, wäre man ja sozusagen der nächste Elon Musk! Toll wäre zum Beispiel, wenn wir künstliche Nervenbahnen oder Prozessoren implantieren könnten. Das ist aber derzeit leider ziemlich utopisch.
Dagegen sind wir dabei, einen intelligenten Roboter für die Wirbelsäulenchirurgie zu entwickeln, der Knochengrenzen und Nervenbahnen erkennt oder etwa merkt, wenn eine Schraube nicht gut hält. Darauf verwenden wir im Moment grosse Aufmerksamkeit, denn Wirbelsäuleneingriffe machen bis zur Hälfte der Interventionen bei uns an der Klinik aus.