Zentrum für Künstliche Intelligenz in der Medizin

«Unser Fachgebiet ist sehr offen für KI.»

Juni 2024

Ekin Ermis ist Oberärztin an der Universitätsklinik für Radio-Onkologie des Inselspitals Bern, wo sie eine an der Universität Bern entwickelte KI-basierte Automatisierung für die Strahlentherapie-Pipeline validiert. In den letzten sieben Jahren hat sie sich in der Forschung und im interdisziplinären Dialog der Verbesserung von Arbeitsabläufen gewidmet, damit Patient*innen mit Hirntumoren rascher eine qualitativ hochwertige Behandlung erhalten.

(© CAIM, Universität Bern)

Dr. Ermis, warum würden Sie KI in die Behandlung von Patient*innen einbeziehen?
Unser Hauptziel ist es, die onkologischen Ergebnisse für Patient*innen mit Hirntumoren zu verbessern und gleichzeitig ihre Lebensqualität zu erhalten oder sogar zu erhöhen. Ich bin für Betroffene mit gutartigen und bösartigen Hirntumoren zuständig. Bei gutartigen Tumoren haben wir eine langjährige Beziehung. Nach der endgültigen Behandlung führen wir für diese Patient*innen eine mehrjährige Nachsorge durch, bei der wir darauf achten, dass die Lebensqualität erhalten bleibt.
Leider haben Patient*innen mit aggressiven Hirntumoren meist eine kurze Lebenserwartung. In diesem Fall ist es unser Ziel, die Zeit von der Diagnose bis zur Behandlung, die derzeit zwei Wochen beträgt, auf zwei Tage zu verkürzen. Die Beschleunigung des Behandlungsbeginns ist für die Patient*innen von enormer Bedeutung. Insbesondere in Anbetracht der psychologischen Auswirkungen der Diagnose kann sich dies sogar positiv auf das Behandlungsergebnis auswirken. Durch die Automatisierung der sich eher wiederholenden und numerischen Aspekte meiner Arbeit, insbesondere in der Strahlen-Onkologie, kann ich wertvolle Zeit zurückgewinnen, die ich den Patient*innen und ihren Familien widmen kann.

Wir wollen die Zeit bis zur Behandlung von derzeit zwei Wochen auf zwei Tage verkürzen.

Wie muss ich mir das genau vorstellen?
In 80 Prozent der Fälle wiederholt die Strahlentherapieplanung dieselben sechs Schritte, die in der Regel zwei Wochen in Anspruch nehmen: Bilderfassung, manuelle Abgrenzung des Tumors, Definition des Therapieziels und der empfindlichen Bereiche, die in der Nähe geschont werden sollen (Risikoorgane), Erstellung der Bestrahlungspläne durch medizinische Planer/Physiker, Qualitätssicherung der erstellten Pläne, Durchführung der Behandlung und weitere Nachbereitung. Da der grösste Teil dieser Arbeit am Computer erledigt wird, ist unser Bereich sehr offen für eine KI-basierte Automatisierung. Dies könnte nicht nur Zeit sparen, sondern auch standardisierte Entscheidungen statt arztabhängige Unterschiede bei der Therapieplanung unterstützen.
Wir haben bereits heute KI-Tools in unsere klinische Praxis eingeführt. Dabei geht es hauptsächlich um die automatische Segmentierung von Risikoorganen, die vor schädlichen Strahlenwirkungen geschützt werden müssen. Wir sind zwar noch nicht so weit, dass wir KI für die Definition der eigentlichen Therapieziele einsetzen, aber ich bin zuversichtlich, dass dies in den nächsten Jahren Realität wird. Unsere Abteilung generiert eine riesige Menge an Daten - insbesondere in der Neuro-Onkologie. Bislang wurden diese Daten nicht für die Entwicklung von Technologien genutzt. Jetzt aber können wir sie in die Patientenversorgung einbringen.

Ekin Ermis widmet sich der Verbesserung der Strahlentherapieplanung bei Hirntumoren durch KI-Tools (© CAIM, Universität Bern).

Was motiviert Sie persönlich?
In der Schweiz arbeiten wir in einem dynamischen Umfeld mit vielen Möglichkeiten. Nachdem ich sieben Jahre hier verbracht habe, stelle ich fest, dass es viel finanzielle Unterstützung für die Krebsforschung gibt. Auf der anderen Seite gibt es eine grosse Freiheit in der Forschung. Wenn man eine Idee hat - egal welche - kann man sie verfolgen und seine Ziele erreichen. Ich habe viel Unterstützung durch interdisziplinäre Arbeitsgruppen und flache Hierarchien erfahren, die es einem ermöglichen, Ideen in konkrete Instrumente umzusetzen - als Assistenzärztin, als Beratende oder als Professor. Ich weiss, dass wir es schaffen können, wenn wir genug Energie, Zeit und Mühe investieren.
Ich fühle mich auch sehr in die Forschung mit unseren technischen Partnern eingebunden. Sie sind bemerkenswert offen für Feedback von jemandem, der keinen technischen Hintergrund hat. Studierende des ARTORG Center besuchen häufig unsere Abteilung, wo ich ihnen Einblicke in unsere klinischen Arbeitsabläufe, unsere Ausrüstung und unsere tägliche Praxis gebe. Wir haben jahrelang darin investiert, uns gegenseitig zu verstehen. Diese Art von Beziehung braucht Zeit. Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem die Kommunikation reibungslos und effektiv verläuft.

Wenn man eine Idee hat - egal welche - kann man sie verfolgen und seine Ziele erreichen.

Das von Mauricio Reyes und seinem Team in einem interdisziplinären Projekt entwickelte KI-Tool kann vollautomatisch schützenswerte Zonen im Hirn für die Planung einer Strahlentherapie segmentieren (© CAIM, Universität Bern).

Wo sehen Sie die KI in der Klinik in 20 Jahren?
Es ist gut möglich, dass KI die Zahl der benötigten klinischen Fachkräfte reduziert. Dies könnte uns jedoch mehr Zeit verschaffen, uns auf die Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen zu konzentrieren. In der klinischen Routine sind wir als Ärzt*innen einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt. Falls KI diese Belastung verringert, liesse uns dies Zeit, einmal zusammen zu sitzen und Ideen zu sammeln, wie wir die medizinische Praxis erneuern und damit die Patientenversorgung verbessern können.
Eine Herausforderung, die ich bei der Implementierung von KI in unsere Workflows sehe, ist die Frage, wie die KI neben den eher "traditionellen Fähigkeiten" in die medizinische Ausbildung integriert werden kann. So müssten beispielsweise Auszubildende in der Strahlenonkologie weiterhin die manuelle Segmentierung beherrschen, auch wenn automatisierte Ergebnisse verfügbar sind. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich Assistenzärzt*innen zu sehr auf die KI verlassen, Fehler übersehen und die Analyse blind übernehmen.

(© CAIM, Universität Bern)

Ekin Ermis ist Neuroonkologin, spezialisiert auf die Strahlentherapie von Hirntumoren. Sie ist Oberärztin an der Universitätsklinik für Radio-Onkologie am Inselspital, Universitätsspital Bern. Ihre Forschung umfasst die Entwicklung und Validierung von KI-Tools zur Automatisierung der Strahlentherapie-Planung.

Dr. Ermis validiert als Teil ihrer Forschung KI-Technologien zur Automatisierung der Therapie-Pipeline, um eine raschere und qualitativ hochwertige Behandlung von Patient*innen mit Hirntumoren zu gewährleisten.

Publikationen

  • Fully automated brain resection cavity delineation for radiation target volume definition in glioblastoma patients using deep learning. Radiat Oncol. 2020 May 6;15(1):100. doi: 10.1186/s13014-020-01553-z.
  • Impact of random outliers in auto-segmented targets on radiotherapy treatment plans for glioblastoma. Radiat Oncol. 2022 Oct 22;17(1):170. doi: 10.1186/s13014-022-02137-9.
  • PyRaDiSe: A Python package for DICOM-RT-based auto-segmentation pipeline construction and DICOM-RT data conversion. Comput Methods Programs Biomed. 2023 Jan 28;231:107374. doi: 10.1016/j.cmpb.2023.107374.
  • Deep-Learning-Based Dose Predictor for Glioblastoma–Assessing the Sensitivity and Robustness for Dose Awareness in Contouring. Cancers 2023, 15, 4226. doi.org/10.3390/cancers15174226.