November 2022
Stavroula Mougiakakou, Leiterin der Forschungsgruppe für künstliche Intelligenz in Gesundheit und Ernährung am ARTORG Center in Bern, betreibt zusammen mit ihrem Team angewandte Grundlagenforschung und will mit diesem Ansatz die Lücke zwischen Theorie und Praxis schliessen..
Frau Mougiakakou, welches ist Ihr aktuelles Forschungsgebiet, und wie kann man sich Ihre Forschung und Ihr Vorgehen konkret vorstellen?
Schon seit meinem Studium liegt mein Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz – kurz KI –, und seit einigen Jahren befasse ich mich schwerpunktmässig mit Ernährung und unserer Gesundheit. Um bestehende Lücken zwischen Theorie und Praxis sowohl im klinischen als auch im «zivilen» Alltag zu schliessen, betreiben wir angewandte und translationale Grundlagenforschung auf Weltklasseniveau. Deshalb sind wir ein stark interdisziplinäres Team, das stetig die Bedürfnisse von Endnutzern sowie Ärzte- und Patientenschaft analysiert. Dabei identifizieren wir auf diesem Gebiet nicht nur neue Forschungsziele, sondern stellen auch Daten und Methoden zur Verfügung, um Diagnose und Management anderer akuter und chronischer Krankheiten zu verbessern. So liegt unser neuster Schwerpunkt etwa bei Diagnose, Management und Prognose von Lungenerkrankungen.
Was hat Sie dazu bewogen, sich für diese Karriere und Ihren Forschungszweig zu entscheiden?
1996, während meiner Diplomarbeit, hatte ich im Rahmen meines Studiums in Elektrotechnik und Informationstechnik in Athen bereits die Gelegenheit, mit Ärztinnen und Ärzten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren über künstliche Intelligenz in der Medizin zu diskutieren. Insbesondere auch darüber, wie sich unser Ingenieurwissen in der Medizin anwenden lässt. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse meiner Diplomarbeit nahm ich dann an einer internationalen Konferenz für biomedizinische Technik teil, wo ich auf weitere Forschende traf, denen es bereits gelungen war, biomedizinische Technik bei Patientinnen und Patienten erfolgreich einzusetzen. Diese Erfahrungen inspirierten mich dazu, meinen Doktortitel auf dem Gebiet der KI-Medizin zu machen.
Wo und wie finden Sie Ideen und Inspiration für kommende Forschungsprojekte?
Lassen Sie mich von unserem neuen Projekt erzählen: Dieses wird von der Europäischen Kommission und vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation finanziert. Zu unseren Hauptzielen gehört es, eine klinisch validierte, kosteneffiziente und KI-basierte Managementlösung zur Unterstützung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes sowie des medizinischen Fachpersonals anzubieten. Mit dieser Lösung lassen sich personalisierte Behandlungsempfehlungen erteilen. Das im Juni 2022 angelaufene Projekt ist das Ergebnis von Innovationen, die meine Gruppe in den vergangenen 14 Jahren entwickelt hat. Jetzt haben wir erstmals die Möglichkeit, die Technologie nicht nur zu integrieren, sondern auch in fünf klinischen Einrichtungen – in vier europäischen Ländern – zu validieren. Die Inspiration und das Projekt selbst beruhen auf den Ideen von jungen Forscherinnen und Forschern aus unserem Team. Diese sind von derselben Leidenschaft geprägt wie ich. Das Ganze ähnelt einem langen, steilen und oft steinigen Weg, auf dem man immer wieder kleine Erfolgserlebnisse erzielt. Diese motivieren uns dazu, unsere Forschung weiter voranzutreiben.
Wodurch lässt sich Ihr Forschungsgebiet im Vergleich zu anderen charakterisieren?
Um in unserem Bereich eine Idee erfolgreich zu entwickeln, braucht es viel harte Arbeit – unter anderem von Informatikerinnen und Informatikern, KI-Expertinnen und -Experten, Gesundheitsexpertinnen und -experten sowie von Fachleuten für Ethik im Bereich KI und Medizin. Dabei gilt es auch, die Patientenschaft und Angehörige kontinuierlich mit einzubeziehen. Dabei gehen wir hochgradig interdisziplinär vor, und das in sämtlichen Projektphasen – von den ersten Ideen bis hin zur praktischen Umsetzung.
Das Ganze ähnelt einem langen, steilen und oft steinigen Weg, auf dem man immer wieder kleine Erfolgserlebnisse erzielt.
Worin sehen Sie die grössten Hürden für Ihre Arbeit und Ihre Forschung?
Der gesamte Bereich KI und Medizin ist heutzutage sehr wettbewerbsintensiv – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Das ist per se positiv, führt aber auch zu enormem Druck. Vor allem dann, wenn man seine Arbeit in der relativ kleinen Schweiz rigorosen und breit abgestützten wissenschaftlichen Tests unterziehen muss, um Tools, Dienste oder Verfahren zur Verfügung zu stellen, denen sowohl Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsberufe als auch die Patientenschaft vertrauen können. Das setzt einerseits Spitzentechnologie voraus, die bestimmte Probleme theoretisch zu lösen vermag, erfordert andererseits aber auch klinisch validierte Ansätze. Unser ARTORG Center for Biomedical Engineering Research ist in die medizinische Fakultät eingebunden, was eine ideale Konstellation ist. Damit verfügen wir über einen klinisch eingebetteten Entwicklungsansatz, der es uns ermöglicht, den Forschungsprozess zu beschleunigen und Erkenntnislücken gezielt zu schliessen.
Auf welche Aspekte Ihrer Forschungen sind Sie besonders stolz?
Dass ich zu den Ersten zählte, die das Konzept der künstlichen Intelligenz im Rahmen des Diabetesmanagements eingesetzt haben. Stolz macht mich auch, dass wir zu den ersten Gruppen von Forschenden weltweit gehören, die ein vollständiges und klinisch validiertes System entwickelt haben, das Fotos und Videos von Lebensmitteln in Nährstoffgehalte umrechnet. Kommt hinzu, dass wir hier an der medizinischen Fakultät der Universität Bern mit unseren Doktorierenden sowie dem neu eingerichteten Master in KI und Medizin eine hochqualifizierte neue Generation von Expertinnen und Experten in diesem Bereich ausbilden. Diese Tatsache erfüllt mich ebenfalls mit Stolz und Freude.
Wie setzt sich Ihre Arbeit zusammen?
Grundsätzlich wende ich viel Zeit dafür auf, mit meinen Kolleginnen und Kollegen neue Ideen zu entwickeln, Forschungsgelder kompetitiv zu beantragen und kontinuierlich konkrete Forschungsarbeit zu betreiben. Zudem beaufsichtige ich die Forschung, überwache das Publizieren unserer wissenschaftlichen Ergebnisse und betreue laufende Projekte. Auch die Lehre ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Darüber hinaus leite ich den neu eingerichteten Masterstudiengang KI und Medizin. Parallel dazu haben wir am Center for Artificial Intelligence in Medicine gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen ein Programm für Diversität ins Leben gerufen. In diesem Rahmen sind wir bestrebt, Aktivitäten in den Bereichen der Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Mentoring und Forschung zu bündeln.
Ohne welches Tool wäre Ihre Forschung ein Ding der Unmöglichkeit?
Abgesehen von der essentiellen Infrastruktur sind vor allem die Menschen entscheidend, damit sich eine Forschungsgruppe gegenseitig respektiert und als Team erfolgreich arbeitet. Was uns verbindet, sind nicht zuletzt das Interesse und die Leidenschaft für unser Forschungsgebiet. Für sehr wichtig halte ich es zudem, dass wir bei unserer Arbeit keine Angst vor Rückschlägen haben.
Wie und wobei wurden respektive werden Sie in Ihrer Laufbahn gefördert?
Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich über ein starkes internationales Netzwerk verfüge, das mich im Verlauf meiner Karriere kontinuierlich unterstützt hat. Dadurch bekam ich stets ehrliches und konstruktives Feedback. Um akademisch voranzukommen, braucht es das – zusätzlich zu den notwendigen Spitzenleistungen in der Wissenschaft.
Finden Sie in Ihrem Leben noch Platz für andere Interessen als die Forschung?
Ich bin Mutter von Zwillingen im Teenageralter und Frau eines viel beschäftigten Mannes. Auch wenn ich meine Forschung liebe, stehen meine Töchter und mein Mann für mich klar an erster Stelle. Es ist zwar teilweise eine Herausforderung, aber ich schaffe es eigentlich immer, Zeit für die Familie zu finden.