November 2024
Thomas Lemmin erforscht die Welt der Proteine, weil ihn das Geheimnis um die Funktion dieser winzigen Maschinen, die das Leben antreiben und ihre Verbindung zu Krankheiten fasziniert. Als Assistenzprofessor am Institut für Biochemie und Molekulare Medizin der Universität Bern leitet er ein Team, das derzeit einen linguistischen Ansatz verwendet, bei dem künstliche Intelligenz (KI) die in Proteinsequenzen kodierten Funktionen entschlüsselt. Durch das Knacken dieses Codes eröffnen sich weitreichende Möglichkeiten für das Design neuer Proteine, von denen die Gesellschaft und deren Gesundheit profitiert.
Thomas, warum ist es wichtig, Proteine zu verstehen?
Stellen Sie sich Ihren Körper als eine komplexe Symphonie biochemischer Reaktionen vor, in der Proteine winzige Musiker sind, die jeweils ihre eigenen Noten spielen und ihre eigenen Funktionen haben. Wenn jemand gesund ist, spielen sie in Harmonie. Bei Krankheit oder Beschwerden entsteht eine Missstimmung. Wenn wir verstehen, wie Proteine interagieren, können wir neue Therapeutika zur Feinabstimmung ihrer Funktion entwickeln, was zu bahnbrechenden Behandlungen für eine Vielzahl von Erkrankungen führen könnte.
Wie erforschen Sie Proteine an der Uni Bern?
In den letzten Jahren hat die Molekularbiologie beeindruckende Fortschritte gemacht, die durch bahnbrechende Techniken wie die Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) und Next-Generation Sequencing (NGS) vorangetrieben wurden. Im Rahmen des Dubochet Center for Imaging ist die Universität Bern führend im Bereich der Kryo-EM, einer innovativen Technik, die es uns ermöglicht, Proteine in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten und so einen besseren Einblick in ihr Verhalten zu gewinnen. Gleichzeitig revolutioniert NGS die Genomik mit seinen umfassenden, durchsatzstarken und kostengünstigen Methoden zur Analyse des genetischen Materials. Doch beide Methoden erzeugen riesige Datenmengen. Hier kommt die KI als leistungsstarkes Analysewerkzeug ins Spiel.
Die KI-gestützte Proteinmodellierung ist eine vielversprechende neue Welt, die darauf wartet, erforscht zu werden, und deren Grenzen erst noch ausgelotet werden müssen
Sprengt KI die Grenzen aktueller Forschungsansätze?
Auf jeden Fall! KI revolutioniert die Proteinmodellierung. Insbesondere öffentliche KI-Initiativen, bei denen grosse, vortrainierte Modelle (Basismodelle) gemeinsam genutzt werden, sind ein entscheidender Fortschritt. Damit können wir spezialisierte Tools für unsere Forschung entwickeln, ohne bei Null anzufangen. Darüber hinaus ist KI perfekt für die riesigen Datensätze, die in der biomedizinischen Forschung verfügbar werden. Wir glauben daher, dass wir mit ihr komplexere Probleme angehen und unsere Forschung erheblich beschleunigen können.
Allerdings sind KI-Modelle so etwas wie Black Boxes: Ihre Vorhersagen sind leistungsfähig aber nicht immer leicht zu verstehen. Dieses Problem der Interpretierbarkeit ist ein Hauptschwerpunkt in meinem Labor. Wir sind davon überzeugt, dass die traditionellen Methoden, die auf physikalischen Molekülmodellen basieren, eine entscheidende wissenschaftliche Grundlage für die Interpretation und Validierung der KI-Vorhersagen bieten. Umgekehrt kann die KI zur Verfeinerung und Verbesserung traditioneller Modelle eingesetzt werden, wodurch eine Rückkopplungsschleife entsteht, die weitere Fortschritte ermöglicht.
Wir untersuchen auch den Einsatz von Techniken aus nicht verwandten Bereichen, wie z. B. der Linguistik, um Proteine auf innovative Weise zu analysieren und zu modellieren. Dieser disziplinübergreifende Ansatz könnte zu bahnbrechenden Entdeckungen im Bereich der Proteinfunktion und des Proteindesigns führen.
Kurz gesagt, die KI-basierte Proteinmodellierung ist eine vielversprechende neue Welt, die darauf wartet, erforscht zu werden, und deren Grenzen erst noch ausgelotet werden müssen.
Die Universität Bern steht an vorderster Front, wenn es darum geht, tiefere Einblicke in das Verhalten von Proteinen zu gewinnen
Was wäre ein praktischer Nutzen einer solchen Forschung?
Nehmen wir zum Beispiel HIV, ein Virus, das für seine schnellen Mutationen und sein komplexes Glykanschild berüchtigt ist und an dem ich an den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda (USA) gearbeitet habe, bevor ich hierher kam. Manche Menschen entwickeln von Natur aus eine stärkere Immunantwort gegen verschiedene HIV-Stämme. Wenn wir verstehen, warum dies auf Proteinebene geschieht, können wir hoffentlich einen wirksamen HIV-Impfstoff entwickeln, der diesen Mechanismus nachahmt. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Proteinforschung in der Praxis einen Nutzen für die Gesundheit bringt.
Was motiviert Sie in Ihrer Forschung?
Hier in Bern, wo ich jetzt seit zwei Jahren bin, kann ich meine Leidenschaft weitergeben! Ich unterrichte Studierende der Biomedizintechnik in biochemischen Grundlagen und versuche, die unglaubliche Welt der Proteine aus einer ingenieurwissenschaftlichen Perspektive zu beleuchten. Ausserdem macht es mir Freude, für Biologie- und Medizinstudierende die KI zu entmystifizieren, damit sie sie verstehen und ein „informiertes Vertrauen“ in sie aufbauen können.
Das interdisziplinäre Forschungsumfeld am Institut für Biochemie und Molekulare Medizin hier empfinde ich als stimulierend. Der ständige Austausch mit experimentellen Gruppen erlaubt es uns, den Kreislauf zwischen rechnerischen Vorhersagen und realen Anwendungen zu schliessen. Das ist entscheidend, um die Stärken und Grenzen unserer Berechnungsmodelle zu ermitteln und sie zu verbessern.
Zu enträtseln, wie Dinge funktionieren, hat mich schon immer angetrieben, über die Theorie hinauszugehen. Ein System theoretisch zu erfassen ist die eine Sache. Es jedoch selbst bauen und manipulieren zu können – darin liegt das wahre Begreifen.